Live Streaming und Social Video machen den Videojournalismus schneller, einfacher und besser. Wer heute wirklich relevant sein möchte, ist live und liefert sein Bewegtbild vorrangig über soziale Netzwerke aus. Von Martin Heller.
2006, gerade mal zehn Jahre her, da habe ich angefangen mit Videos für dieses Internet, als Redakteur bei Spiegel Online. Damals sind VJs mit semi-professionellen Camcordern im Bundestag oder bei Presseterminen noch belächelt worden. Das hat sich längst gewandelt, zum Glück, manch Skeptiker von damals bewarb sich kurze Zeit später um einen VJ-Job oder buchte Workshops in Mobile Reporting. Wir Online-VJs haben das Material jedenfalls noch von Band in 1:1 Echtzeit auf einen Datenträger überspielt, dann erst geschnitten, vertont, gemischt, exportiert, hochgeladen, editiert, auf mehreren Geräten, meist in extra Schnitträumen.
Dass ein Redakteur eine richtige Kamera in die Hand nimmt, damals also revolutionär – heute schon wieder „Old Media“. Zumindest in News-Redaktionen. Denn Kameras, mit denen man lediglich Material sammelt, um das später „im Schnitt“ zu bearbeiten, haben inzwischen einen massiven Nachteil. Sie sind schlichtweg zu langsam.
Wer im Netz bei News-Themen punkten will, der nutzt in der Regel sein Smartphone – als Aufnahmegerät, Sendegerät, Empfangsgerät, Schnittplatz und Übertragungswagen gleichzeitig.
„Mobile ist the new normal“, sagt meine Co-Bloggerin Sandra Sperber. Bald können wir Social und Live hinzufügen!
Am 3. Oktober habe ich mich in den Zug nach Dresden gesetzt. Zwanzig Minuten nach der Ankunft war ich schon live zwischen Wutbürgern vor der Frauenkirche. Meine Handyvideos von diesem Tag haben insgesamt mehr als zwei Millionen Views eingebracht, Erlöse durch Lizensierungen an TV-Sendungen, vielleicht haben sie sogar eine öffentliche Debatte befeuert.
Dabei ist es unerheblich, wann ich wirklich live war, wann ich Livevideobilder hinterher noch mal zusammengeschnitten habe oder wie bei der Szene mit Claudia Roth fast klassisch gefilmt und kurz danach vom Smartphone aus gepostet habe.
Es war aus meiner Sicht auch nicht ein einzelner viraler Glückstreffer, nicht nur das Aufeinandertreffen von Claudia Roth mit sächsischen Schreihälsen, es waren viele Bilder, Eindrücke rund um die Feiern und Proteste am Tag der Deutschen Einheit, die nicht mehr Wirkung hätten entfalten können als durch die Kombination aus Schnelligkeit und der Distribution über soziale Medien.
Natürlich gab es in Dresden auch gute Online-Videos, die erst am Abend ins Netz gestellt wurden. Doch zeigt sich hier eine Entwicklung, die wir früher eher in der Unterscheidung zwischen Tagesaktualität und Wochenmagazin gesehen haben. Wer sich den Luxus eines längeren Materialsammelns und vor allem einer aufwändigeren Bearbeitung erlauben will, muss um so exklusivere Inhalte liefern. Wer sechs Stunden später „sendet“, sollte schon einen eigenen „Dreh“ im Video haben, eine ganz besondere Szene, Idee, Information, vor allem, wenn es von der gleichen Situation auch einen Livestream gab.
Und ich bin mir sicher, dass wir bei dem Thema erst am Anfang sind. Wer nicht über professionell produziertes Live-Material verfügt, wird VJs immer öfter zum Livestreamen mit dem Handy raus schicken. Durch die Entwicklung in Technik und Social Media wird das begünstigt. Live or lost, wer relevant sein will, muss schnell sein.
Youtube hat in der Beta-Phase bereits eine Live-App für Smartphones, Instagram will Livevideo anbieten, Facebook hat Periscope längst den Rang abgelaufen – von Meerkat ganz zu schweigen, dem Star der SXSW 2015, vor nicht mal zwei Jahren.
Was heißt das für den Videojournalismus? Natürlich wird die DSLR-Kamera, die in vielen Redaktionen semi-professionelle Camcorder längst abgelöst hat, auch weiterhin ihre Einsätze haben, zuweilen Vorteile ausspielen. Doch wer im Newsbereich relevant sein möchte, hat oft keine Zeit für Schärfeverlagerungen. Die Berichterstattung wird schneller und häufig – ja wirklich – sogar besser!
Social Live macht den Journalismus besser – davon bin ich überzeugt. Gerade weil wir unsere Zuschauer jetzt vor Ort mit dabei haben, live, unmittelbar. Mit Fragen können die User direkt einwirken auf die Berichterstattung, sofern es journalistisch verantwortbar bleibt. Über die Kommentare und die Anzeige der Live-Anzahl der Zuschauer bekommen Reporter direkte Rückmeldung während des Streams. Niemand muss darauf ständig reagieren, doch je mehr Daten desto besser, und wenn wir sehen, was unsere Zuschauer verstehen, wissen wollen, was sie fesselt, was sie langweilt, ist das zumindest kein Nachteil.
Und was bedeutet das für Journalisten? Nicht die teure Kameraausrüstung muss entscheidend sein, Flexibilität und Verantwortung sind viel wichtiger. Ein Arbeitsergebnis muss nicht mehr unbedingt durch eine Abnahme. Be first but be right, in Social Media und in Bewegtbild, darum geht’s immer öfter.
Und spätestens damit fällt auch der Irrglaube, ein wertiger Beitrag müsse überhaupt geschnitten sein. Die erfolgreichsten Clips im Netz haben nicht unbedingt ein Schnittprogramm durchlaufen. Aber das ist wohl ein eigenes Thema für dieses Blog.
Immer schneller, immer einfacher – zu steile These? Was sagt Ihr zum Live-Trend im Videojournalismus. Schreibt es in die Kommentare oder twittert @webvideoblog, postet. Freu mich über jede Meinung.